Viele Menschen meinen, zu genießen. Aber tatsächlich ist es kein echter Genuss, sondern nur ein eingebildeter. Auf die Frage, was er eben gegessen habe, antwortet der Mann von Frau Lassen “Keine Ahnung, Hasi – aber es hat gut geschmeckt!” Frau Lassen kocht mit Hingabe leckere Hausmannskost, aber ihr Mann ist mit dem Gedanken in der Firma. Zum Frühstück studiert er die Aktienkurse, beim Mittag denkt er an die kommende Konferenz, beim Abendbrot an den Krimi danach. Kann so ein Mann eigentlich wirklich genießen? Er würde es behaupten, aber man darf Zweifel haben.
Genießen heißt: loslassen können! Es bedeutet, sich Zeit zu nehmen, aufmerksam wahrzunehmen, die Sinne auf das zu fokussieren, was ist. Das Konzept des “Hier und Jetzt” ist der Schlüssel zum Genuss! Wir befinden uns ständig im Wenn-und-Aber, im Dann-und-Wann oder im Weder-Noch. Unsere Gedanken hängen an der Vergangenheit oder streben in die Zukunft, aber die Gegenwart verpassen sie häufig. Der Buddhismus schult seine Anhänger nicht umsonst in Achtsamkeit. Nur dieser Moment ist wichtig und lebendig. Alles andere ist bereits Erinnerung oder noch Zukunftsphantasie. Indem wir uns Zeit nehmen, das Essen zu genießen, würdigen wir den Moment, den Koch, den Geschmack, das schöne Geschirr, die Anwesenheit der Familie. Nichts davon ist selbstverständlich. Essen dient nicht nur der Notwendigkeit des Überlebens, sondern ist auch ein Genuss. Leider haben wir in der Moderne eine falsche Vorstellung von Genuss entwickelt. Hauptsache, es schmeckt – ob es auch Nährwert und Vitalstoffgehalt hat, ist zweitrangig. Das macht sich die Nahrungsmittelindustrie zu Nutze und peppt alles mit Aromen, Vitaminen und nutzlosen Füllstoffen auf. Sie nennt diesen Prozess “Veredelung”, aber tatsächlich ist es eine Entwertung und Wiederaufwertung, an der viele Instanzen gut verdienen. Erst wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir, wo wir für dumm verkauft werden.
Wann haben Sie das letzte Mal frische Pellkartoffeln mit Butter und Salz gegessen? Einfache, bodenständige Gerichte wie dieses sind am Aussterben. Pizzas, Döner, Fastfood, Conveniencefood und Functional Food sind auf dem Vormarsch. Masse ersetzt Klasse, Qualität wird zu Gunsten der Quantität ausgehebelt. Kochen wird zu Gunsten der Mikrowelle oder des belegten Brötchens aus der Bäckerei aufgegeben. Wer mit Genusstraining beginnen möchte, wird sich Zeit geben müssen. Er stellt nämlich fest, dass seine Geschmacksnerven bereits auf die moderne Lebensweise geeicht sind. Zu salzig, zu süß, ohne Ballaststoffe, aber mit viel Fettkalorien als Geschmacksträger – das ist unser täglich Brot. Kohlrabi, Möhrensuppe oder Quinoa mit Zuccini erscheinen uns geradezu als fade. Ein Leben ohne Schokolade, Pommes und Pizza? Undenkbar! Wenn das so ist, ist Genusstraining umso spannender! Bärbel Graf kaufte sich eine Getreidemühle und isst nur noch Vollkornkuchen, Vollkornpizza und frisch gebackene Vollkornbrötchen. “Es ist ein sinnlicher Genuss, das duftende, noch warme Mehl zu verarbeiten!” sagt sie. Und was sagt ihre Waage dazu? Sie zeigt sich erleichtert! Der Ballaststoffgehalt ist hoch, Frau Graf ist schneller satt. Sie ist heute vitaler, bewegt sich mehr und meidet Kalorienbomben aus dem Supermarkt. Manchmal genießt sie im Büro einen Formuladrink statt der Handpizza oder legt einen spontanen Obsttag ein, weil die Erdbeeren gerade so herrlich duften.